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Leitlinien für die Osterlob-Vertonung


Erwin Bücken








Maßgebend für meine Vertonung der Exsultetübersetzung N. Lohfinks waren folgende Leitlinien. Es sind Auszüge aus meinem Beitrag in BIBEL UND LITURGIE1) und aus den Einführungstexten dieser Kantillationen-Web-Site, verbunden mit verschiedenen Ergänzungen.
 

A) Ausgangspunkte der Osterlob-Vertonung

 Ausgangspunkte sind einige Tatsachen, Überzeugungen und Optionen.

1. Das lateinischen Exsultet hat, mit begrenzt vorgenommenen Text-Änderungen, bei der Liturgieerneuerung erneut Aufnahme gefunden in das revidierte Missale Romanum2).

2. Der seit Jahrhunderten vorherrschend überlieferte und gerühmte Gesang des Exsultet ist (unbeschadet anderer Singweisen früherer oder gegenwärtiger Zeit) nach wie vor gut und weder verbesserungsbedürftig noch -fähig; er sollte deshalb, wenn möglich, modell-getreu für die deutsche Liturgie erhalten bleiben.
 


3. Bei der formelhaft gebundenen Kantillation des Exsultet
- gibt es im Unterschied zum ungebundenen freien gregorianischen Gesang  keinen Primat des Textes gegenüber den Kadenzen (s. ob.), d. h. die Kadenzen richten sich nicht nach dem Text;
- vielmehr ist für das Exsultet wie auch für die Präfationen und andere Kantillationen konstitutiv eine wechselseitige Kongruenz zwischen dem melodischen Rhythmus der Kadenzen und dem sprachlichen Rhythmus des "cursus leoninus" (= einer bestimmten Folge betonter und unbetonter Silben)3), mit Ausnahme der rhythmisch indifferenten, aber melodisch formelhaft festen Melodiefiguren (s. Anhang 1).

4. Die lateinische Sprache wird seit dem fränkischen Einfluß akzentuierend (nicht mehr quantitierend), also dem Deutschen vergleichbar, gesprochen und gesungen.

5. Wegen dieser analogen Sprech- und Singweise kommt die deutsche Kantillation in der musikalischen Wirkung m. E. der lateinischen Kantillation gleich, wenn nur
- die Übersetzung den cursus leoninus beachtet, wo er unverzichtbar ist für die wort-rhythmische Kongruenz zum Melodie-Rhythmus,
- und die Vertonung sich an die rhythmisch gebundenen oder indifferenten, aber formelhaft festen Melodiefiguren hält.

6. Ungeachtet der notwendigen Mühe beim Texten bzw. bei der Übersetzung braucht im Deutschen die sprachliche Beschränkung durch Beachtung des cursus leoninus wegen seines eleganten Rhythmus wie im Lateinischen der Qualität der Sprache nicht abträglich zu sein.

7. Soll die deutsche Kantillation ansprechend klingen, dann gelten die erforderlichen Voraussetzungen (cursus leoninus und getreue Melodiemodell-Anwendung bzw. -anpassung) unabhängig davon, ob die authentische lateinische Weise noch bekannt ist und sich beim deutschen Gesang zustimmende Assoziationen einstellen wie: "Das klingt wieder genauso wie bisher das lateinische Exsultet!"

Fazit: Weil Latein wie Deutsch akzentuierend gesprochen und gesungen werden, gilt m. E.: Was lateinisch kantillierend gut klingt, klingt unter denselben melodischen und sprachlichen Voraussetzungen auch deutsch gut.
 

B) Zielsetzung der Osterlob-Vertonung

Allgemein möchte die Osterlob-Vertonung demonstrieren:

1. daß auch im Deutschen eine weitgehend modellgetreue Vertonung möglich ist (man vergleiche sie mit dem authentischen Exsultet!);

2. daß die Lohfink-Übersetzung dazu gut geeignet ist;

3. welche Möglichkeiten, Voraussetzungen und Grenzen es für eine modellgetreue Vertonung gibt.

Ferner soll durch die Osterlob-Vertonung die Erprobung der Singbarkeit und der Gefälligkeit einer nahezu modellgetreuen Vertonung ermöglicht werden. (Näheres dazu im Abschnitt H)

Im Besonderen möchte die Vertonung einen "Königsweg" weisen für melodiemodell-getreue Kompromisse. Wenn die Vertonung bei Übersetzungsschwierigkeiten sich mit dem bequemeren Weg einer nur lockeren Anlehung an das authentische Melodiemodell begnügt, driftet sie unweigerlich in unverbindliche Willkür und Beliebigkeit ab. Deshalb soll hier gezeigt werden, daß - wenn auch um den Preis größerer Mühe bei der Übersetzung - durch erforderliche Text-Kompromisse modellgetreue Vertonungs-Kompromisse erzielt werden können.

Vollkommen modellgetreue Kompromisse sind im Deutschen immer dann möglich, wenn sie an vergleichbaren Stellen im Lateinischen vorkommen: im Cantus solemnis = Feierliche Singweise (s. Abschnitt E, 1. Absatz) wie auch im Cantus simplex seu ferialis = Einfache Singweise (s.
Abschnitt F, 2. Absatz).

Nahezu modellgetreu sind bei bestimmten Text-Kompromissen modellnahe Anpassungen wie in lateinischen Melodie-Kompromissen möglich. (s. Anmerkungen 4 und 5).
 

C) Maßstab und Methode der Osterlob-Vertonung

Melodie-Modell und Text-Gestalt des Exsultet lassen für den Prolog und für den Präfationsteil klar analysierbar das Schema teils einmaliger, teils wiederholter melodisch und textlich sich gegenseitig bedingender Formelhaftigkeit erkennen. Zur Formelhaftigkeit gehören nicht nur die rhythmisch festliegenden Kadenzen, sondern auch die rhythmisch indifferenten, aber notenmäßig festliegenden Melodie-Formeln (s. Anhang 1).

Der Exsultetgesang verläuft also trotz des abwechslungsreich ausgezierten "Sprechgesanges" nicht willkürlich, sondern nach Regeln, die sich vom Exsultet analytisch ableiten und in systematischen Überblicken schematisch darstellen lassen. (Vgl. den nachfolgenden Kommentar, die Anmerkungen und die Analysen in den Anhängen.)

Eine möglichst modellgetreue Vertonung muß dies alles kennen und beachten, indem die Übersetzung mit den einzelnen Wörtern, Satzteilen und Sätzen dem Schema des Melodie-Modells entsprechend synthetisch dem Original-Exsultet weitestmöglich angeglichen (appliziert oder zumindest adaptiert) wird.
 

D) Zur Vertonung der Lohfink-Übersetzung im Allgemeinen

 Für erwähnenswert halte ich folgende mehr allgemeine Aspekte.

1. Die Übersetzung N. Lohfinks ermöglichte es,
- daß bei der Melodierung fast übereinstimmend mit dem Original die Gliederung und Wiederholung der Vorder- und Nachsatzmelodien mitsamt dem Einsatz der melodischen Zusatzakzente und deren Vorbereitung in den Vorder- und Nachsatzmelodien übernommen werden konnten, was die Vertonung in so wahrnehmbare Nähe zum Exsultet bringt (zu Einsatz und Vorbereitung der Zusatzakzente s. Anhang 2);
- daß alle unterschiedlich ausgezierten Initien und Sonderfiguren4), die die Festlichkeit und Abwechslung des Exsultet ausmachen, an den Originalstellen des Exsultet eingesetzt werden konnten durch getreue Anwendung (Applikation) oder zumindest durch weitestgehende Anpassung (Adaptation)5), was sie willkürlicher, verkürzender oder unterschlagender Vertonung entzieht.

2. Wenn die rhythmischen Zeichen nicht überzeugen (allgemein oder an einzelnen Stellen), dann kann man sie ja übergehen - und womöglich bemerken, daß man spontan doch an den meisten Stellen so singen wird, wie es die Zeichen insinuieren möchten.

Eine Hilfe für rechte Betonung ist es, wenn im Notenbild (wie leider nicht immer in den bisherigen Meßbüchern geschehen) bei den Mittel- und Schlußkadenzen der Ausdruck der Einzelnoten jeweils über der ersten Silbe des cursus leoninus, d. i. über der vorletzten stark betonten Silbe, beginnt.6)
 

E) Zur Osterlobvertonung im cantus solemnis

Im Einzelnen sei hervorgehoben: Manchmal wollte in der Übersetzung bei Satzmitten kein echter cursus leoninus gelingen. Das erforderte zwei Arten von Vertonungs-Kompromissen nach dem authentischen Vorbild des Exsultet.

1. Wenn Satzmitten eine "starke" Endung haben (d. h. mit betonter Silbe enden), dann sind sie im deutschen cantus solemnis wie im lateinischen Exsultet (z. B. bei "Haec nox est; circa nos; beata nox; scriptum est") kompromisshaft im authentischen cantus simplex vertont, also nicht in der Pseudo-Solemnis-Kadenz, wie sie im Messbuch 1996 für die Karwoche und Osteroktav erstmalig verwendet wurde: dort ohne syllabischen Auslauf mit ein oder zwei unbetonten Noten (z. B. "würdig und recht" und öfter) oder auch musikalisch störend, wenn textlicher und melodischer Akzent nicht übereinstimmen (z. B. "Adams Schuld bezahlt").

2. Wenn außerdem zwischen der vorletzten und letzten Akzentsilbe nur éine unbetonte Silbe steht, dann bekommt diese im Deutschen wie im lateinischen Exsultet kompromisshaft eine zweinotige Neumengruppe.

Hier wird deutlich, wie wünschenswert es ist, daß in der Übersetzung bei Satzmitten starke Endungen möglichst vermieden werden.
 

F) Zur Osterlob-Vertonung im cantus simplex7)

1. Vorweg eine generelle Feststellung: Wenn im Laufe der Jahre das Osterlob wie die deutschen Präfationen als zu unfestlich und monoton empfunden wurden und man daher für beides eine Vertonung im cantus solemnis wünschte, so ist das zwar verständlich und berechtigt. Aber man sollte nicht übersehen, daß das Osterlob und die Präfationen bereits im cantus simplex weniger monoton, also entschieden ansprechender klingen könnten, wenn der authentische cantus simplex wirklich getreu angewandt (zumindest angepaßt) worden wäre. Das betrifft vor allem den Einsatz des melodischen Zusatzakzentes in der Nachsatzmelodie, so oft er möglich gewesen wäre, was sofort mehr Farbe in die Melodie gebracht hätte, z. B. häufig zu den Worten "ím-mer und überall", "und sín-gen..." und "den Hóch-gesang...", aber auch an zahllosen anderen Stellen und auch im Osterlob. - Ferner könnte oft eine andere Gliederung der Vorder- und Nachsatzmelodien mehr Leben bringen.

2. Im cantus simplex fällt speziell bei der Mittelkadenz ausnahmslos auf, was in der entsprechenden Kadenz des cantus solemnis unauffällig bleiben kann, wenn nämlich zwischen den beiden letzten stark betonten Silben nur eine unbetonte Silbe vorkommt (z. B. Fest der Ostern, Lamm getötet wird), wenn also in der Satzmitte kein echter cursus leoninus steht. Nach dem Vorbild der syllabischen Figuren, z. B. in der alten Fastenpräfation (wegen zu geringer Silbenzahl bei "mentem elevas") oder im Exsultet (abwechslungshalber bei "Haec nox est"), verlangt das Modellschema der Kantillation für die Mittelkadenz, daß auch im cantus simplex die vorletzte stark betonte Silbe noch auf der Rezitationshöhe gesungen wird. Dadurch wird im cantus simplex ein ungewöhnliches Terzintervall notwendig. Geschieht das selten, stört es wenig. Geschieht das öfter (wie z. B. häufig im Messbuch 1996 bei den verschiedenen Kantillationen), stört es auffällig die vertraute Präfations-Melodie. Ob bei der Länge des Osterlobs die vorkommenden Stellen noch vertretbar sind, ist eine Ermessensfrage. Ideal ist es nicht, aber ich finde es annehmbar, weil es insgesamt die melodische Nähe zum Exsultet wenig verläßt.

Auf jeden Fall sollte man bei der Übersetzung des Osterlobs, der Präfationen und anderer Kantillationstexte möglichst konsequent den cursus leoninus anstreben, statt den bequemeren, aber nur als Ausnahme gedachten Ausweg mit dem Terzintervall zur Regel zu machen und so ganz unnötig das melodische Gesamtbild zu stören.

3. Zur Vorbereitung der Zusatzakzente in den Nachsatzmelodien des Osterlobs im Unterschied zum authentischen cantus simplex der Präfationen s. Schlußbemerkung in Anhang 2!

4. Wird im cantus simplex um irgendeiner Konsequenz willen ohne die ausgezierten Initien und Sonderfiguren kantilliert, dann bleibt vom Exsultet nur ein musikalischer Torso übrig. Und wenn diese für das Exsultet charakteristischen Elemente der Festlichkeit und Abwechslung fehlen, dann wird auch das Bedürfnis nach Zwischen-Akklamationen verständlich, um die Überlänge des so entstandenen langatmigen Präfationsteils aufzulockern. Wozu jedoch erklingen dann die Akklamationen? Zu festlich gefeierten Glaubensgeheimnissen, die unfestlich besungen werden!

5. Der Unterschied zum cantus solemnis besteht in meiner Vertonung im cantus simplex fast nur in der einfacheren Weise der Mittel- und Schlußkadenzen und der "Sonderfiguren".

6. Sicher wird man einen würdigen Vortrag des cantus simplex vorziehen gegenüber einem stümperhaften Gesang des cantus solemnis, wenn das in der Praxis die einzige realiserbare Alternative sein sollte.
 

G) Zu Einwänden gegen die Osterlob-Vertonung

Bisweilen werden Einwände und Gegenvorschläge gemacht, die sich m. E. bei näherem Zusehen z. T. schon unabhängig von der Option für exsultetgetreue Vertonung als nicht diskussionswürdig herausstellen oder die die Argumente für Orientierung an dem authentischen Melodiemodell gar nicht zur Kenntnis nehmen.
 

1. "Primat des Textes gegenüber seiner musikalischen Gestalt"

 Dergleichen Einwände betreffen in Wirklichkeit nicht die deutsche Kantillation ("accentus"), sondern die deutsche Gregorianik ("concentus"), über deren Scheitern seit Jahrzehnten kaum mehr Zweifel besteht. - Näheres dazu oben in Punkt A 3 und nachfolgend in der Analyse des Exsultet.
 

2. "Die erste Silbe sollte unbetont sein, damit der erste Akzent immer auf den Rezitationston fällt."

Dieses Postulat ignoriert die rhythmische Indifferenz der variierenden lateinischen Satz(-teil-)anfänge (= "Initien") oder wertet sie so, als ob sie für eine akzentuierende Sprache wie die deutsche weniger geeignet sei. Das hinwiederum ignoriert, daß auch das Latein, wie schon erwähnt, längst akzentuierend gesprochen und kantilliert worden ist. Außerdem öffnen solche Postulate das Tor zu musikalischer Monotonie, indem im Gegensatz zu den rhythmisch abwechslungsreich formulierten lateinischen Initien (wie übrigens auch zu unzähligen Liedanfängen!) für deutsche Kantillation immer dasselbe Betonungsschema der Satz(-teil-)Anfänge empfohlen wird. Das ist also ohne lateinisches Vorbild, ignoriert die Möglichkeit, variierend gut klingend sprach- und sinngemäß zu kantillieren, und bringt musikalisch nur unnötige Verarmung.
 

3. "Man sollte nach Möglichkeit nur betonte Silben mit Ligaturen hervorheben (= mehrere Noten zu einer Silbe), weil sonst falsche Akzentuierung unbetonter Silben provoziert wird."

Wir würden m. E. wiederum die deutsche Kantillation zu monotoner Langweiligkeit verurteilen, wenn wir im Gegensatz zu den entweder rhythmisch indifferenten oder je nach Cursus wechselnden Melodie-Akzenten der lateinischen Kadenzen im Deutschen gleichbleibend immer nur betonte Silben mehrnotig hervorheben, unbetonte Silben aber nur einnotig singen dürften.

Auch würde das ausgewogene Klangbild der authentischen Mittel- und Schlußkadenzen in deutsch genauso wie in latein durch Abweichen vom cursus leoninus oder willkürliche Verteilung betonter und unbetonter Silben auf die Kadenznoten unweigerlich gestört.

Schließlich kann man fragen, welcher Unterschied diesbezüglich zwischen der Kantillation einerseits und z. B. Bach-Arien oder zahllosen (Kirchen-)Liedern andererseits besteht, wo Ligaturen auf unbetonten Silben ständig vorkommen und gut und erlaubt sind.

Zur möglichen Provokation, falsch zu betonen s. u. Abschnitt H: "Zur Erfahrung mit der Osterlob-Vertonung".
 

4. "Bei den Kadenzen wird der zweite Akzent stärker empfunden als der erste."

Man kann sich fragen, ob da eine unberechtigte Analogie gesehen wird zu einakzentigen Kadenzen in der Psalmodie, wo in den rhythmisch indifferent vorbereitenden Silben melodisch kein vorletzter Akzent zu dominieren braucht.

Vor allem stellt sich die Frage, wie das mit den tatsächlichen lateinischen Texten des Exsultet und der Präfationen übereinstimmt, die ja im Unterschied zu den Psalmen vom cursus leoninus geprägt sind und daher grundsätzlich zwei Hervorhebungen bei den Kadenzen kennen. Wenn man sie nur etwas pointiert sprechend rezitiert, wird das überdeutlich. Einige Cursus-Beispiele in der Reihenfolge des Vorkommens im Präfationsteil des Exsultet: "mentis affectu / ministerio personare / debitum solvit / piaculi cautionem / cruore detersit / festa paschalia / Agnus occiditur / fidelium consecrantur" - usw. Wenn das für lateinische Kantillation keine Schwierigkeit bietet, wieso dann für deutsche? Übersehen wir vielleicht, daß im Deutschen auch ohne cursus leoninus ständig mehrere wichtige Hervorhebungen in einem Satzteil vorkommen, die so wenig dem "Sprech-Gesang" widersprechen müssen wie einem sinngemäßem Sprechen?

Und was wäre das für ein langweiliges, ja abstoßendes Deutsch, wenn der Hauptakzent immer auf der zweit- bzw. drittletzten Silbe stehen müßte? Welch ungebräuchliche, unschöne und gewundene Formulierungen sind vor allem in der Zeit der Vorauspublikationen unter diesem Diktat entstanden, so daß die Frage aufkommen konnte, ob man für Kantillationen andere Übersetzungen schaffen sollte als für gesprochenen Vortrag.

Natürlich sollte damit nicht verwechselt werden, daß gemäß dem melodischen Schema für die Mittel- und Schlußkadenzen der cursus im Auslauf niemals mehr als zwei unbetonte Silben haben darf. Textrhythmische Verstöße dagegen sind ausnahmslos unschön und deshalb zu vermeiden.
 

5. "Exponierte Worte im Prolog des Exsultet sollten in der Übersetzung möglichst an derselben Stelle stehen wie im Lateinischen und so dieselbe Melodieformel erhalten."

Die melodische und rhythmische Analyse des Prologs (s. Anhang 1) zeigt klar, welche Teile des Melodiemodells im lateinischen Exsultet rhythmisch indifferent sind, wenn auch gegebenenfalls von der Silbenzahl her festliegend, und wie andere melodische Teile von unterschiedlichen Formen des cursus leoninus bestimmt sind. Für eine exsultetgetreu melodierbare Übersetzung des Prolog-Textes braucht man sich also keine engere Fessel anzulegen, als sich auf die freigestellte Wahl bei der Anwendung der möglichen authentischen Alternativen zu beschränken. Die aber sollte man wirklich beachten!
 

H) Zur Erfahrung mit der Osterlob-Vertonung

Unabhängig von jeder theoretischen Diskussion bleibt die entscheidende Frage, ob in der Praxis eine Osterlob-Vertonung bei angemessenem Vortrag ansprechend gesungen werden kann und im Vergleich zum lateinischen Exsultet gleichermaßen gefällig klingt.

Dabei sollte das Einvernehmen der Musiker nicht übersehen werden, daß die musikalische Qualität einer Melodie nicht von der Leichtigkeit oder Schwierigkeit beim Singen abhängt, so daß man auseinanderhalten sollte:
- die musikalische Frage nach der Qualität der Vertonung,
- die praktische Frage nach dem Schwierigkeitsgrad und der Aussicht auf Gelingen des Gesangs,
- die Opportunitäts-Frage, ob es angezeigt ist, sich an den Gesang zu wagen, wenn man eigentlich davon überfordert ist, oder durch eine Publikation anderen Sangeswilligen und -fähigen den Gesang zu ermöglichen, und dabei in Kauf zu nehmen, daß weniger Sangesfähige sich vielleicht zuviel damit zumuten - beides zum Ärgernis der Gemeinde.

Wer aber die musikalische Qualität und/oder die Singbarkeit meiner Osterlob-Vertonung als zu wenig kritisch in Frage stellt, möge bitte bedenken, daß man anstelle von Kritiklosigkeit auch in das andere Extrem geraten kann, indem man zu kritisch wird und erreichbar Gutes einbüßt, weil man vermutlich unerreichbar Besseres sucht.



ANMERKUNGEN

1 BIBEL UND LITURGIE (Österr. kathol. Bibelwerk: Klosterneuburg) 74 (2001) H. 1: Erwin Bücken: Vertonung der Exsultet-Übersetzung Norbert Lohfinks nach dem Melodiemodell des Exsultet mit Kommentar zu Fragen im Umfeld des Exsultet und der Präfationen S. 27-36; Osterlob Das Exsultet deutsch vertont im cantus solemnis und cantus simplex von Erwin Bücken S. 37-48.

2 Missale Romanum 1970, 21975, p. 965-975. - Auch in: DAS OSTERLOB - EXSULTET, deutsch-lateinisch, hrsg. v. Erwin Bücken SJ. Herder 1979, 21981, S. 20-32.

3) Den gewöhnlichen Formen des cursus leoninus ist gemeinsam:
- vor der letzten betonten Silbe stehen mindestens zwei, höchsten drei oder vier unbetonte Silben mit Nebenakzent auf der vorletzten Silbe;
- nach dem letzten Hauptakzent folgen wenigstens eine, höchstens zwei unbetonte Silben.
Klassisches Vorbild sind die von Papst Leo d. Gr. (440-481 n. Chr.) in vollendeter Eleganz formulierten Gebete und Reden.
Von den Formen eines cursus leoninus brauchen exemplarisch nur die vier wichtigsten erwähnt zu werden, die überwiegend übereinstimmend den Text der lateinischen Präfationen und des Präfationsteils im Exsultet bei Satzmitten und -enden und deren melodische Kadenzformeln bestimmen, z. B. für die Mittelkadenz im cantus solemnis  (/ = betont,  ' = schwach betont,  - = unbetont):


4) Die fünfmal im Exsultet vorkommende "Sonderfigur" (von mir in diesen Leitlinien so benannt) findet sich immer bei derselben Folge von 4 bzw. 5 Silben: betont, unbetont, betont, unbetont, gegebenenfalls nochmals unbetont, (immer ohne Vorlauf, z. B. "mare rubrum"), melodisch ableitbar als nach oben und unten mehrnotig erweiterte zweite Hälfte der Mittelkadenz im cantus solemnis beim cursus trispondiacus oder velox (also ohne jede Beziehung zur rhythmisch indifferenten und syllabisch absteigenden Tonfolge im Prolog - s. Anhang 1):
5) Vgl. z. B. die fünf Stellen, an denen im Exsultet die "Sonderfigur" steht, wie sie dem deutschen Text angepaßt sind: da sie in einem echten Cursus ohne Vorlauf, wenn auch evt. mit starker Endung, übersetzt sind, können sie im Sinne der nach oben und unten erweiterten Mittelkadenz (s. Anmerkung 4) kantilliert werden: Verse 9: "trockenen Fußes", 11: "heimführt zur Gnade", 20: "jagt die Verbrechen fort," und: "Feindschaft jagt sie fort", 27: "Lodernde Flamme".
Vgl. auch, wie die zweimal emphatisch ausgezierte Figur zu "Haec nox est" (Verse 9 und 12), die sich von der Mediatio im cantus simplex ableitet, indem sie nach oben erweitert ist und eine Initium-Terz vorausgeht, entsprechend dem deutschen Text: "Dies ist die Nacht" angepaßt ist:


6) Als unverständlich und grotesk darf man es wohl ansehen, daß die "divisio minima" neben ihrer herkömmlichen Bedeutung als rhythmische Gliederung von Satzteilen im MB 1996 auch als Betonungszeichen für vorausgehende Silben (zwischen Wörtern oder sogar innerhalb einzelner Wörter, z. B. "Er ' hat für uns" oder "Da'rum") Aufnahme finden konnte, ohne Erklärung, als sei das selbst-verständlich, sinnvoll und legitim.

7) Wenn das Exsultet hier nicht nur im cantus solemnis, sondern auch im cantus simplex vorgestellt wird, so geschieht das aus pragmatischen Gründen, um weniger Sangesfähigen mit dem leichter zu singenden cantus simplex entgegenzukommen, nicht aus musikalischen Erwägungen; denn der cantus simplex und der cantus solemnis sind melodisch nicht gleichwertig, und "leichter zu singen" bedeutet nicht schon "musikalisch vorzuziehen" (vgl. Abschnitt H "Zur Erfahrung mit der Osterlob-Vertonung"). Wer die einfache Singweise lieber mag, weil sie angeblich "froher" klingt als die feierliche, sollte beide nach ihrem Namen, nach ihrer Verwendung und ihrer musikalischen Wirkung insgesamt vergleichen. Der "cantus simplex" der Präfationen wurde im Lateinischen nicht von ungefähr für die wenig festlichen Tage, also für die liturgisch niedrigsten Feiern, vorgesehen und daher auch "cantus ferialis" genannt. Auch lasse man die beiden Bearbeitungen jeweils als Ganze auf sich wirken: ob der cantus "solemnis" in seiner getrageneren, mit einem Hauch von Melancholie verbundenen Weise nicht trotzdem oder gerade deswegen "feierlicher" klingt als der cantus "simplex" in seiner unbeschwert schlichten, aber das Gewicht der Aussagen m. E. weniger an- und ausdeutenden Weise (übrigens später als der cantus solemnis eingeführt). - Daß andererseits der hier vorgestellte cantus simplex der Lohfink-Übersetzung immer noch entschieden exsultet-näher ausfällt als der cantus simplex der Meßbuchübersetzung und -vertonung, läßt sich unschwer feststellen.
 

  Anhang 1


Anhang 2


Grund-Modelle der verschiedenen Präfationsweisen Im Sinne "gestufter Feierlichkeit" gab es im Missale Romanum für die Präfationen den cantus simplex seu ferialis, solemnis und solemnior mit unterschiedlich feierlichen Mittel- und Schluß-Kadenzen. Diese Weisen wurden durch die Liturgieerneuerung nicht außer Kraft gesetzt, zumal im Anhang des neuen Missale Romanum (1970, 21975) je ein Beispiel für den cantus simplex und solemnis stehen. Diese Beispiele können natürlich nicht exemplarisch sein für alle möglichen textlichen Vorkommnisse, sind also als Rückverweise auf das frühere Missale Romanum zu verstehen und sollten um der Möglichkeit gestufter Feierlichkeit willen nicht vermegt und die Unterschiede nicht vermischt werden.

Eine Analyse aller alten lateinischen Präfationsweisen einschließlich der Weihepräfationen und des Präfationsteils im Exsultet läßt erkennen, wie außerdem von einer bestimmten Silbenzahl vor dem Zusatzakzent in der Nachsatzmelodie an dieser verschiedenartig vorbereitet wurde, sei es unmittelbar vor dem Akzent, sei es beim Nachsatzbeginn. - Unterschiedliche Kadenzformeln kombiniert mit unterschiedlichen Vorbereitungen der Zusatzakzente ergeben letztendlich fünf "Grund-Modelle" der lateinischen Präfationsweisen, die auch im Deutschen im Sinne der gestuften Feierlichkeit differenziert angewandt werden sollten. - Ein Sonderfall waren die Karfreitags-Fürbitten: sie wurden bewußt "trist", d.h. oft ohne den belebenden Zusatzakzent, kantilliert.

Wenn die für das jeweilige "Grund-Modell" erforderliche Mindestzahl von Silben vor dem Zusatzakzent nicht gegeben ist, dann wurde in den lateinischen Präfationen mit Ausnahme des cantus solemnior der Zusatzakzent mitsamt der Vorbereitung bei mindestens 2 Silben vor dem Zusatzakzent von der zweitletzten Silbe ausgehend einheitlich mit den Noten "g a b" durchgeführt.

Die folgende Übersicht zeigt, daß in den deutschen Meßbüchern (unabhängig von der vorausgehenden Silbenzahl) der Zusatzakzent und die Vorbereitung mit den Noten "g a b" im cantus simplex, im cantus solemnis und in den Weihepräfationen durchgehend unauthentisch angewandt worden ist, wie z. B. bei der Doxologie am Ende des Hochgebetes im cantus simplex (was außerdem zur unschönen Betonung der Silbe "-keit" führt).

Einzig im Exsultet kommen oft in der Nachsatzmelodie der Zusatzakzent und Vorbereitung mit den Noten "g a b" wie ein "Echo" auf Zusatzakzent und Vorbereitung in der Vordersatzmelodie mit den Noten "a b c" vor, aber so, daß die Nachsatzmelodie des Exsultet von genügender Silbenzahl an zusätzlich mit dem kleinen Initium "g a" beginnt.

N. B.: Um dieses für das Exsultet charakteristischen "Echos" willen habe ich bei der Vertonung des Osterlobs auch im cantus simplex die Einleitung der Nachsatzmelodie und die Vorbereitung des melodischen Zusatzakzentes nach dem Melodie-Modell des Exsultet melodiert.


 


 


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