Kantillationen - Lesungen  A 4: Karfreitag -- Passion: Abschluß
 

Karfreitag

Passion - Abschluß: Joh 19, 38-42


Das Ende der Passion ist in der Weise vertont, wie früher im Lateinischen das Ende ad libitum gesungen werden konnte (= in einem alten Evangelienton). Die melodisch-rhythmische Analyse der lateinischen Vertonungen aller vier Passionsabschlüsse läßt ein festes Melodiemodell erkennen, das hier für die deutschen Kantillationen getreu angewendet wird – unbeirrt durch alle Ideologie betr. mehrsilbiger Figuren auf unbetonten Silben: Bei deutlicher Hervorhebung der betonten Silben und ggf.dynamischer Steigerung auf unbetonten Silben entsteht ein ständiger Wechsel zwischen Spannung und Lösung.

Der Abschluß der Wortgottes-Verkündigung wird in der formelhaft ausgezierten Kantillationsweise musikalisch zu einer letzten wehmütigen Klage über die Passion unseres Erlösers, vor allem durch die gleichbleibend wiederkehrende "Klage"-Figur zu Beginn eines jeden Satzes, aber bei aller Trauer auch in versöhnter Getröstetheit ob der ausgestandenen Kreuzesqual und der Erwartung der Auferstehung.

Dieser Widerspruch der Gefühle entspricht nicht nur dem Verkündigungstext von der Beisetzung des Leichnams Jesu, sondern findet ebenso sensiblen Widerhall in den Abschlüssen der Matthäus- und Johannespassion bei J. S. Bach und – äußerst erstaunlich und überzeugend – beim Abschluß der Rockoper "Jesus Superstar" durch den abrupten Abbruch der ungestümen Rockmusik. In der Verfilmung bleibt es dem Zuschauer überlassen, ob er im Blick auf die ferne Sonne am Horizont deren unwiderruflichen Untergang in letzter Trostlosigkeit miterlebt, oder ob er bei der unerwartet verklärten, versöhnlich stimmenden Abschlußmusik den neuen Sonnenaufgang erahnt und erhofft.

Ähnlich verlangt diese Kantillationsweise, gekennzeichnet durch die formelhaft gemäßigte Expressivität, einen meditativ gestimmten und stimmenden Gesang in gelöst-klagender, großer Ruhe: Ausdeutung nicht nur für das letzte Wort Gottes aus dem Leidensbericht an uns, sondern auch für unseren gedenkenden Dank an ihn, wie ein ehrfürchtiges Begleitgebet zur Beisetzung des verehrungswürdigen Leichnams mit den schwer zu vereinbarenden Emotionen, die die Menschen damals beherrscht haben müssen und uns immer wieder anfallen.

Die melodischen Figuren bei den Satzanfängen und im Satzinnern sind unveränderlich "rhythmisch indifferent", d. h. Folge und Zahl der Noten liegen wie im lateinischen Melodiemodell silbenmäßig fest, unabhängig vom Wortrhythmus.Man muß also besonders die gleichbleibenden Satzanfänge jeweils ruhig und vollständig wie eine selbständige "Klage"-Figur singen, zugleich so, daß sie rhythmisch richtig in die folgende Silbe bzw. in das folgende Wort einmündet, was von Satz zu Satz anders klingt und durch die Betonungszeichen angedeutet wird.
 

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