Kantillationen - Lesungen
Die Schriftlesungen im Wortgottesdienst
Die Texte entsprechen unverändert der offiziellen Einheitsübersetzung, wie sie im deutschen Lektionar stehen.Die Vertonungen halten sich an die offiziellen Melodie-Modelle des deutschen Lektionars, wie sie dort im Anhang zu finden sind.
Die Schwierigkeiten und Grenzen einer guten Kantillation nach diesen vorgegebenen Melodie-Modellen ergeben sich unumgänglich aus der Tatsache, daß die deutsche Einheitsübersetzung im Unterschied zur Übersetzung der Gebete, Präfationen und Schlußsegen nicht im ,,cursus leoninus" (vgl. Kantillationen - Allgemeines) abgefaßt ist, weil das für gesprochenen Vortrag der Heiligen Schrift zu gekünstelt wirken müßte. Man hat zwar im Laufe der Jahre überlegt, ob deshalb für den kantillierenden Vortrag eine eigene Übersetzung geschaffen werden sollte, die geeigneter für den melodisch formelhaften Sprech-Gesang wäre. Bis jetzt hat man aber aus mehreren Gründen davon Abstand genommen:
Erwähnenswert scheint Folgendes. Der erste, dritte und fünfte Evangelienton ver wenden zumindest für das Corpus (bzw. im 5. Ton für die jeweils 1. Satzhälfte) der Rezitation die »Ruf-Terz«. Es ist die kleine Terz, in der z. B. die meisten spontan »Haaa-loooh!« rufen - oder wie Kinder gerne vor einer Echowand rufen: »Wie heißt der Bürgermeister von Wesel?« -»Esel«.Es könnte weder ökumenisch noch allgemein pastoral als ideal angesehen werden, wenn dadurch die Idee der »Einheitsübersetzung« durchkreuzt würde; das Unternehmen wäre mit einem Riesenaufwand verbunden, für das kein zeitlicher Abschluß absehbar wäre; die Anfertigung einer solchen ,,Kantillations-Übersetzung" würde noch mehr als die ,,Einheits-Übersetzung" so unterschiedliche Kompetenzbereiche und gegensätzliche Wertvorstellungen anfordern, daß es unmöglich erschiene, befriedigende Lösungen zu finden anstelle von Kompromissen im klassischen Sinne, bei denen nicht der eine den anderen über den Tisch zieht, sondern alle Seiten unzufrieden blieben - sonst wären es bekanntlich keine guten Kompromisse. Diese Spontaneität bei der Ruf-Terz kommt dem kantillierenden Ausrufen der Glaubens-Verkündigung entgegen. Nicht von ungefähr wurde für die einfachste lateinische Weise - jetzt im ersten deutschen Evangelien-Modus - diese Ruf-Terz verwendet, allerdings mit dem überaus wichtigen Unterschied, daß in Latein diese Terz-Kadenz bei jedem Satzende auf der viertletzten Silbe gesungen wurde, ganz unabhängig von der Folge der betonten und unbetonten Silben am Satzende, was man »rhythmisch indifferent« nennt, während das Melodie-Modell für den deutschen Vortrag vorsieht, daß die Terz gleichbleibend vor dem letzten Hauptakzent einsetzt. Das ergibt aber ein musikalisch durchaus anderes Klangbild.
- Zum einen wird dadurch stereotyp - darf man sagen: langweilig? - immer der letzte Haupakzent stark hervorgehoben, was keineswegs der ursprünglichen melodischen Absicht des lateinischen Modells entspricht.
- Zum andern entstehen Konfliktfälle, wenn nach dem letzten Hauptakzent eines Satzes, weil ja kein cursus leoninus verwendet wird, oft noch ein Auslauf mit mehr als zwei un- oder schwachbetonten Silben folgt. Soll dann die Terz vor dem letzten Hauptakzent oder vor dem letzten schwachen Nebenakzent erklingen? Beide Lösungen können unbefriedigend wirken. Das geringere Übel dürfte oft bestehen, wenn wirklich vor dem letzten Hauptakzent die Terz einsetzt und dann ein gegebenenfalls längerer Auslauf wortrhythmisch sehr elastisch aufgefangen wird - aber eben als »geringeres Übel« und keineswegs als ideale Lösung, für die es bisher kein uneingeschränkt geeignetes melodisches Modell gibt. Und ist es jedermanns Sache, beseelt in dynamisch-elastischem Rhythmus zu kantillieren? Stattdessen nach dem lateinischen Modell »rhythmisch indifferent« gewöhnlich auf der viertletzten Silbe die Terz einsetzen, ansonsten wirklich dem Wortsinn entsprechend betonen und so jeden Satz beenden: das dürfte bei einem längeren Auslauf für die meisten einfacher zu singen sein, vom Melodiemodell her oftmals weniger monoton wirken und den längeren Auslauf nach dem letzten Hauptakzent unauffälliger klingen lassen. Aber das wird man angesichts der Vielzahl sprachlicher Möglichkeiten bei den Satzenden nicht einheitlich regeln wollen oder können und der Sensibilität des Kantillierenden überlassen müssen.
Dieselbe Problematik (Konflikt nicht nur zwischen Melodie-Modell kongruent zu einem cursus leoninus und Übersetzung ohne cursus leoninus, sondern auch zwischen melodischer Hervorhebung des letzten Hauptakzentes und längerem Auslauf mit weiteren schwachbetonten Silben) erfordert analog bei allen Lesungs- und Evange lientönen kompromißartige Lösungen. Das kann oft nur nach Ermessen geschehen. So werden nachfolgende Vertonungen sich bemühen, sowohl in weitestgehender Treue zum Melodie-Modell als auch nach persönlicher Einschätzung dem vom Modell erstrebten Klangbild einer textdeutenden Kantillat ion und nicht nur eines musikalisch gut klingenden Sprech-Gesanges nahezukommen.Die Schrift-Lesungen beginnen immer neu mit S. 1. Die Siglen entsprechen der Inhaltsübersicht des Messbuchs S. 7* - 11*, ermöglichen also eine systematische Einordnung. Innerhalb eines Sonn- bzw. Festtages folgen die Texte nach Lesejahr A, B und C, was in der Kopfleiste auch vermerkt wird.