Kantillationen - Allgemeines u. Gemeinsames S.1


1. Wort- und Sacherklärung

Der Begriff "Kantillation" ist zwar Jahrhunderte alt (s. u. 2.), aber außerhalb der Fachliteratur und der Fachkreise wenig bekannt. Sein Wortlaut läßt nicht erkennen, was er bedeutet, und seine Herleitung vom Lateinischen bleibt unklar. So bedarf es zunächst einiger Erläuterungen.

Im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) wurde mit der römisch-katholischen Erneuerung der Messfeier erstmals freigestellt, daß Texte, die bis dahin im "(Hoch-)Amt" vom Altar aus lateinisch "gesungen" wurden, nun auch in der Muttersprache erklingen durften. Das betrifft die Gebete (Tagesgebet, Gabengebet [bis dahin still gebetet] und Schlussgebet), Weihegebete, Schriftlesungen, Präfationen, Schluss-Segen, sowie die eucharistischen Hochgebete (bis dahin ebenfalls still gebetet) und die Psalmodie. - Die beiden letztgenannten bleiben mit ihrer je eigenen Problematik in dieser Website (wenigstens vorerst) unberücksichtigt.

Während man bis heute unreflektiert und ungenau vom "Gesang" der betreffenden Texte spricht, nannte man ihn in der Gregorianik "Rezitation". Aber auch dieser Begriff ließ vom Wortlaut her eher an anderes denken als an das eigentlich Gemeinte; er leitete sich ebenfalls nicht konsequent vom Lateinischen ab (recitatio = Vorlesung) und bot zudem Anlaß zur Verwechslung mit dem musikgeschichtlich bekannteren mehrdeutigen Begriff "Rezitativ".

Anscheinend haben die für die Verwirklichung der Liturgieerneuerung maßgeblichen Stellen aus der jahrhundertealten Vergangenheit den zwar unpopulär gebliebenen, aber historisch gerechtfertigten Begriff "Kantillation" aufgegriffen mit der (im Unterschied zum Gesang im eigentlichen Sinn) spezifischen Bedeutung:

Solistischer, formelhaft gebundener Sprechgesang zur Hervorhebung bedeutsamer liturgischer Texte.

"Sprechgesang" als vokale Ausdruckweise zwischen Sprechen und Singen kommt in einer unbestimmten allgemeinen Bedeutung zu allen Zeiten in allen Bereichen der Kultur und Religion vor.

Die Kantillation heißt seit dem 16. Jahrhundert auch "accentus" (urspr. Betonung) im Unterschied zum "concentus" (urspr. Übereinstimmung), den nicht formelhaft gebundenen, frei und oftmals kunstvoll auskomponierten Melodien, den "melismatischen" Gesängen der Gregorianik, häufig mit vielen Noten auf einer Silbe ("oligotonische" Melodiefiguren).
Die Herkunft des Begriffs Kantillation vom Lateinischen erscheint rätselhaft. Canere bzw. Intensivform cantare = singen und cantilare (mit einfachem l!) = trillernd singen haben nichts zu tun mit "Sprechgesang"; cantillare (mit doppeltem l!) gab es weder im klassischen Latein noch im "Kirchenlatein".

Das mit Kantillation nicht zu verwechselnde Wort Kantilene = getragene, gesangartige Melodie (also mit positiver Bedeutung) geht auf das klassische lateinische Wort cantilena zurück, das aber abwertend soviel wie "Singsang" bedeutete und nur im Kirchenlatein auch positiv "Litanei" bezeichnen konnte.

Kantillation und Kantilene erfuhren also gegenüber den lateinischen Wörtern einen bemerkenswert extremen Bedeutungswandel.


Allgemeines und Gemeinsames zur Kantillation, Seite 1
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