Kantillationen - Allgemeines u. Gemeinsames S.6


d) Scheinprobleme

(1) Wortgrenze und Silbenzahl

In STUDIEN UND ENTWÜRFE (s. Literaturauswahl) bringt Christof Emmanuel Hahn in dem Beitrag "Die Präfationen im Meßbuch. Text- und Melodiegestalt." (S. 155-170) S. 158 eine schematische Übersicht über die vier gebräuchlichen Cursus-Formen, dann über sechs "seltenere Cursus-Formen", und S. 165 Beispiele zu allen Cursus-Formen in latein und in deutsch.

Wissenschaftlich kann man Hahn für die Übersicht dankbar sein, da es nicht leicht zu sein scheint, diese Informationen in der Literatur zu finden. Leider konnte ich nicht feststellen, auf welche Quellen seine detaillierten Auskünfte zurückgehen.

Für die Praxis braucht man wohl nur eine scheinbare Problematik darin zu sehen, wenn Hahn in seiner schematischen Übersicht den "Cursus Leoninus" beschreibt als "geregelte Abfolge von betonten und unbetonten Silben unter Berücksichtigung von Wortakzent und Wortgrenze". Das Scheinproblem steckt in "Wortgrenze", als ob eine ganz bestimmte Stelle der Wortgrenze für den echten cursus substantiell sei. - Zur Ergänzung des scheinbaren Problems kann man sogar noch die Auskunft des Großen Brockhaus hinzufügen, wo es heißt, "der Kursus verlangt am Ende der Sätze zwei mindestens dreisilbige Wörter." Beides - die Wortgrenze an bestimmter Stelle und zwei mindestens dreisilbige Wörter - trifft aber zumindest für die liturgischen lateinischen Texte keineswegs ausschließlich zu! Da wurde problemlos der Text für die Kantillation einfach approximativ nach Art einer der vier üblichen Cursus-Formen den formelhaft gebundenen melodischen Kadenzen zugeordnet.

So wird man sich auch in der deutschen Kantillation nicht sklavisch an die Prinzipien der "Wortgrenze" (Hahn) und der "zwei mindestens dreisilbigen Wörter" (Brockhaus) halten müssen, solange nur in der Übersetzung berücksichtigt wird, was oben als "gemeinsam für die gewöhnlichen Formen des cursus leoninus" charakterisiert wurde.

(2) Einschränkung sprachlicher Möglichkeiten

Die strikte Einhaltung des cursus leoninus wirkt auf den ersten Moment wie eine Verarmung der an sich gegebenen sprachlichen Möglichkeiten. In Wirklichkeit mindert der cursus leoninus unbeschadet dieser notwendigen Einschränkung im Deutschen sowenig wie früher im Lateinischen die sprachliche Qualität, sondern verleiht dem Text in beiden Sprachen den gerühmten stilvollen Rhythmus. Er sollte also nicht wie ein nur notwendiges Übel in Kauf genommen werden. Vielmehr verdient er im Deutschen genauso wie im Lateinischen geschätzt zu werden als Garant sprachlicher Eleganz und melodisch authentischer Kadenzformeln, weil er die sprach-rhythmische Möglichkeit schafft für die Melodierung nach den festliegenden Kantillations-Modellen.


Allgemeines und Gemeinsames zur Kantillation, Seite 6
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