Kantillationen - Allgemeines u. Gemeinsames S.8


b) Praktische Erfordernisse zum Kantillationsvortrag

Neben notwendiger musikalischer Fähigkeit ist für befriedigenden Vortrag in mehrfacher Hinsicht die Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig von Bedeutung.

(1) Mitte zwischen Objektivismus und Subjektivismus

Man kann den Text entweder zu "objektiv", das heißt unpassend seelenlos (unmusikalisch) "rezitieren", als ob man aus Respekt vor Gott und der Gemeinde sich selbst ganz hinter dem Text zurückzunehmen habe.

Oder man kann den Text zu "subjektiv", das heißt abstoßend emotional, affektiert, pathetisch, opernhaft singen, als ob die Würde des Gottesdienstes verlange, daß der Liturge - den künstlerisch wertvollen Chorgesängen vergleichbar - seinerseits der Gemeinde einen ausdruckvollen künstlerischen Gesang vorzutragen habe.

Eine ausgewogene Mitte zwischen "zu objektiv" und "zu subjektiv" negiert nicht beides prinzipiell, sondern sucht Übertreibungen zu meiden.

(2) Maßvolle Phrasierung

Wie in der Musik und beim Gesang allgemein, so ist auch beim liturgischen Sprechgesang ein Mindestmaß an musikalischer Gestaltung unerläßlich, wenn die Kantillation der Verdeutlichung bedeutsamer Texte dienen soll. Die Fachterminologie gebraucht dafür den Begriff "Phrasierung".

"Phrase" meint bezüglich der musikalischen Gestaltung eine Gruppe von Tönen, die eine musikalische Sinneinheit und damit ein Gestaltungselement für den musikalischen Vortrag bilden.

"Phrasierung" meint dann die Gliederung musikalisch sinnvoller Zusammenhänge durch Verdeutlichung der einzelnen Phrasen.

Wegen der Unterschiede im Bereich des Gesanges muß man zwar auseinanderhalten, was und wie im künstlerischen und im Gregorianischen Gesang ("concentus") einerseits und was und wie bei der Kantillation ("accentus" - s. 1) andererseits phrasiert werden soll. Aber ein Zitat aus ULLSTEINS LEXIKON DER MUSIK (9. Aufl. 1979, S. 414) beleuchtet die gegenwärtige Tendenz bezüglich der Phrasierung, wovon sich die deutsche Kantillation nicht ausnehmen kann:

"In neuerer Zeit sind wir für übertriebene Phrasierung empfindlich geworden. Ist es auch nicht richtig, auf jede Phrasierung zu verzichten und die Tonstücke mechanisch abrollen zu lassen, so verlangt Phrasierung Zurückhaltung, damit der Zusammenhang des Ganzen nicht gefährdet wird."

"Der Zusammenhang des Ganzen" ist ein geeigneter Schlüsselbegriff, um die möglichen entgegengesetzten Extreme von Zuviel und Zuwenig bei der Phrasierung der Kantillation wahrzunehmen und zu vermeiden:
-  Man kann übertreiben, indem man dramatisierend und maniriert eine sprach- und sinngemäß ausdruckstarke dynamische Deutung einzelner Wortphrasen anstrebt auf Kosten des "Zusammenhangs des Ganzen" - ein Extrem, zu dem die lateinische Kantillation nicht verführt hat.
-  Man kann zu wenig bemüht sein, einen text- und melodiegemäßen Vortrag ganzer Satz(teil)phrasen anzustreben, wiederum auf Kosten des "Zusammenhangs des Ganzen" -  ein Extrem, das zwar in der lateinischen Kantillation auch möglich war, dort aber aus den bereits erwähnten Gründen weniger gestört hat als im Deutschen (s. 8 a (1)).

(3) Fazit

Die richtige Vortragsweise bewegt sich also bei der deutschen Kantillation nicht anders als bei der lateinischen in der Mitte zwischen Objektivismus und Subjektivismus sowie zwischen übertriebener Wort-für-Wort-phrasierung und vernachlässigter Satz(teil)phrasierung als ein maßvoll phrasierter Vortrag der großen Melodiebögen ganzer Satzteile mit den ständig wiederkehrenden gebundenen Formeln (Kadenzen).

Wie bei allen Dingen liegt auch beim Kantillationsvortrag das Wahre, Gute und Schöne in einer Mitte, die kein messserscharfer Grat ist. Sie duldet eine unbestimmte Bandbreite für die Individualität, solange ungute Extreme gemieden werden, auch wenn es fließende Übergänge dazu gibt.


Allgemeines und Gemeinsames zur Kantillation, Seite 8
weiter zu den Seiten: Index S.1 S.2 S.3 S.4 S.5 S.6 S.7 S.8 S.9 S.10 S.11


- HOME -