Kantillationen - Allgemeines u. Gemeinsames S.4


6. Zwei programmatische Unterscheidungen

a) Modellmelodie - Melodiemodell

Bei zusammengesetzten Wörtern spezifiziert im Deutschen das erste Wort das zweite. Ein banales Beispiel: Ein Radfahrer ist ein Fahrer, der mit einem Rad fährt; ein Fahrrad ist ein Rad, mit dem man fahren kann.

Auf die Kantillation angewandt, sollte man nur von derem "Melodiemodell" sprechen, nicht von ihrer "Modellmelodie", um von vornherein die irreale Erwartung einer exakten Melodieübertragung für deutsche Kantillation auszuschliessen. Das folgt aus der Eigenart der Kantillationsweisen im Unterschied z. B. zu einem Liedgesang.

Die Melodie eines ggf. mehrstrophigen Liedes mit einer festen Zahl von Wörtern und zumeist festem Wortrhythmus ist ein gleichbleibendes Modell für den Gesang in jeder beliebigen Strophe und Sprache, also eine modellhafte Melodie, kurz eine "Modellmelodie".

In allen Kantillationen hingegen, selbst wenn sie mehrstrophig sind (wie z. B. das adventliche Rorate), ändert sich von Satz zu Satz die Zahl der Wörter, oft wechseln auch die verschiedenen Wortrhythmen und die verwendeten formelhaften Melodiefiguren (Kadenzen). Eine möglichst genaue Anwendung auf deutschen Gesang kann daher nur geschehen, indem eine authentische Kantillationsweise als melodisches Modell für deutsche Kantillation verwendet wird, also kurz als "Melodiemodell".

Der Begriff "Melodiemodell" deutet mithin schon durch seine Wortbildung die Problematik "getreuer" Anwendung authentischer Kantillationsweisen auf deutsche Kantillation an.

b) Anwendung - Anpassung (der Melodiemodelle)

Die Website wird zeigen, daß der getreuen Anwendung (Applikation) der authentischen Kantillationsweisen im Deutschen oft Grenzen gesetzt sind. Dann geht es darum, den Königsweg legitimer Kompromisse für eine Anpassung (Adaptation) zu finden. Als "legitim" dürfen kompromisshafte Anpassungen gewertet werden, wenn sie vergleichbar in verwandten authentischen Kantillationsweisen vorkommen, so daß ihre Übernahme vertretbar erscheint für eine wenigstens weitestgehend getreue Anpassung.

Der Begriff "Anwendung" eines Melodiemodells deutet also ebenfalls schon durch die Wortbildung an, daß das primäre Ziel der Vertonung wirklich eine möglichst genaue Modell-Anwendung sein sollte zu einer wenn auch vielleicht nur mühsam zu erstellenden geeigneten Übersetzung, statt vorschnell, weil bequemer, auf die Mühe um eine geeignete Übersetzung zu verzichten und auf den Kompromiß einer eigentlich nur in einem unumgänglichen Notfall legitimen Anpassung auszuweichen.


Allgemeines und Gemeinsames zur Kantillation, Seite 4
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